Mairitsch, Karin (2020): Helmi Vent – Lab Inter Arts. Einblicke in das Performance-Labor 'Hätte Hätte Fahrradkette'. 1. Auflage, 280 Seiten, Deutsch und Englisch. St. Gallen / Berlin: Vexer Verlag. <https://www.vexer.ch/cms/index.php/verlagsprogramm/147-mairitsch-karin>

 

Ein Buch als Gefährt für künstlerische Forschung: Zu Helmi Vent und zum Lab Inter Arts

Das Buch zur Arbeit der Künstlerin, Laborgründerin und Professorin Helmi Vent mit Texten von ihr und Karin Mairitsch gibt „Einblicke“ in das Performance-Labor Inter Arts. Es trägt den Titel des gleichnamigen Films „Hätte Hätte Fahrradkette“ und entstammt einem mehrjährigen interdisziplinären Projekt am Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst der Paris-Lodron Universität Salzburg und der Universität Mozarteum Salzburg. Damit sind schon viel Elemente der Feinmechanik aufgerufen, die zur Entstehung des Buches geführt haben: Zwischen den Künsten, zwischen verschiedenen Medien, zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Praxis und Forschung. Der Konjunktiv im Titel wie die Metapher der Fahrradkette erweisen sich für diese Feinmechanik der interdisziplinären Arbeit als hilfreich. Beide Grussworte im Buch greifen den Titel zurecht auf als Lesehilfe- und haltung: Offenheit für die künstlerische Arbeit als Möglichkeitsraum und Neugier für das „Unvorhergesehene im Geschehenlassen“, auch bei der Lektüre.

Die Fahrradkette ist auch deshalb ein interessantes Objekt, weil es einen vor allem beschäftigt, wenn es aus dem Zahnrad springt. Kommt das Fahrrad jäh zum Stillstand, merkt man, wie sehr man die Kette braucht. Braucht man künstlerische Forschung? Braucht es ein Buch zu einem Film? Braucht es einen Film über ein Performance-Lab? Springt mit einem Buch zur künstlerischen Forschung deren automatisches Getriebe aus? Und wer braucht das, was dabei herausspringt?

Die Fragen werden so direkt nicht gestellt, aber man kann das Buch als eingehende Beschäftigung damit sehen – und das ist schon seine erste Qualität. Es ist voraussetzungslos und braucht keine diskursiven Bausteine aus angesagten Theorien, um sich zu legitimieren. Und obschon das Buch von viel Komplizenschaft, Nähe und Spass in der Arbeit erzählt, reibt es sich an einem ernsthaften und überaus komplizierten Anliegen. Es geht ihm um nicht mehr und nicht weniger als um das Erfahrbarmachen von kreativen Prozessen, die naturgemäss im Inneren des Subjektes stattfinden und die nur unter Umständen sicht- und mitteilbar werden. Das „Anliegen“, so Karin Mairitsch, „ist das Eingebrachte und ‚Mitgebrachte’, das eng ans Innerste geknüpft und also nicht trennbar vom Selbst ist. Es ist sehr konkret und doch nicht fassbar. Es ist nicht aufhaltbar und darum wohl erfahrbar.“

Nicht leicht aufhaltbar und darum erfahrbar, konkret und doch nicht fassbar? Zwei Fragen schliessen sich an diese scheinbar paradoxen Feststellungen an. Erstens: Wenn ein kreativer Prozess erfahrbar ist, ist er dann auch mitteilbar und sinnhaft – für andere? Und, zweitens, wenn er mitteilbar ist – mit welchen Mitteln? Auf beide Fragen sucht das Buch Antworten, das ist sein Anspruch.

 

Vom Sinn künstlerischer Forschung als ästhetischer Praxis

Obschon künstlerische Forschung an Kunsthochschulen seit ca. 20 Jahren ein akademisches Label ist, wird die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit noch immer gestellt, oft von den Forschenden selber. Auch im Lab Inter Arts hört man sie. Was steht dabei auf dem Spiel? Um den Zweifel in seinem ganzen Gewicht zu sehen, ist es nützlich, an Freuds Verlegenheit und seinen Trotz gegenüber der etablierten Wissenschaft zu erinnern, als er die Psychoanalyse als Methode zu etablieren suchte – wohlwissend, dass sich die Psyche niemals wie ein ordentliches wissenschaftliches Feld strukturieren lässt. Wenn es in der künstlerisch-pädagogischen Absicht des Lab Inter Arts um ein ‚ans Innerste Geknüpft-Sein’ des und der Einzelnen geht, verweist dies auch auf die Psyche als einem kreativen Gebiet. In seiner Triebstruktur besteht es aus Freud und Leid, Lust und Schmerz, Verneinung und Bejahung und viel Phantasie. Der Kunstpädagoge und Psychoanalytiker Karl-Joseph Pazzini hat darauf immer wieder verwiesen: „Wenn die Psychoanalyse eine fröhliche Wissenschaft sein kann, dann verdankt sie das der Konfrontation mit dem Leid“, so Pazzini. Dass sie auch ein „ernsthaftes Gepräge“ hat, daran haben Freud wie auch Nietzsche gearbeitet mit dem Anspruch, dem Unlogischen, dem Ungehörigen, dem Unmoralischen und sogar dem Ungefügten der Psyche und damit auch dem Ungefügten des Denkens und Sprechens Raum zu verschaffen. Ob dieser Raum auch jener der Wissenschaft sein kann, steht seither immer wieder zur Disposition.

Wenn die Frage nach der Legitimität einer anderen Forschung, die sich nicht etablierter Wissenschaft unterwirft, heute aus der Kunst kommt, könnte man künstlerische Forschung mit ihrem Sinn für „Differenzierung und Gestaltgebung von Intensitäten“ (Helmi Vent) dann nicht auch als eine fröhliche Wissenschaft positionieren? Jedenfalls ist das Anliegen existentiell und führt über die Kunst hinaus: Karin Mairitsch: „Es (d.h. das Anliegen der KünstlerInnen) ist am ehesten zu vergleichen mit einer Übersetzung, die uns in ästhetischen Manifestationen und sinnlichen Bezügen ‚Wissens-Wertes’ über und für das Leben vermittelt.“ Nicht mehr das Attribut Kunst ist hier wichtig, sondern der Begriff der Aisthesis, der sinnlichen Erkenntnis. Sie wäre das, womit künstlerische Forschung als ästhetische Praxis intervenierend und intermittierend in Wissenschaftsdiskurse und somit auch in die Alltagswelten der ProtagonistInnen eingreift – als „Wissens-Wertes“. Mit dieser Überzeugung ist im Buch von beiden Autorinnen ebenso von ästhetischer wie von künstlerischer Forschung die Rede. Helmi Vent bevorzugt den Begriff ‚Ästhetische Forschung’: „Sie nimmt Wahrnehmungsprozesse unter die Lupe (aisthesis: griechisch Sinneswahrnehmung), fragt nach Gegebenheiten und Modalitäten, nach Konditionierungen und Sensibilisierungsmöglichkeiten innerhalb konkreter Bezugsfelder.“ Ob künstlerische oder ästhetische Forschung: Es geht immer um ästhetische Praktiken, die in verschiedenen Medien und Situationen erprobt und auch erfunden werden. Ästhetische Praktiken anzuwenden und gleichzeitig zu erschliessen als Erfahrbarmachung dessen, was so gerne landläufig ‚Kreativität’ genannt wird, ist Arbeit am Kleinsten und Singulären. Damit zur zweiten Frage: Lassen sich diese Praktiken zeigen? Lassen sie sich vermitteln?

 

„Merk-male“ der Arbeit im Lab Inter Arts

Wie der Film versucht auch das Buch diese Arbeit im Singulären ästhetischer Praxis, welche sich in den Performances manifestiert, nicht nur zu sagen (kommentieren, reflektieren, diskutieren), sondern auch zu zeigen, in durch und durch reflektierter Manier.

Es verwendet dazu unterschiedliche Zugangsweisen: die Dokumentation, dann 
die Reflexion und Analyse einzelner Performances und dann auch die Zeugnisse der ProtagonistInnen, die diese vorsichtigen Analysen weniger beglaubigen als erweitern. Heraus kommt dabei keine Methode, nach welcher die Performances erarbeitet werden, sondern Sprünge, Wendungen und Ein-fälle, die sich immer in Bezug auf das Unvorhersehbare und nicht Präfigurierte der Performance ereignen. Die Analyse erfolgt entsprechend als Akt der Annäherung – wie die Autorin Karin Mairitsch sorgfältig vermerkt, sowohl in sprachlicher wie visueller Form, die ihr Gepräge vom Gegenstand selber erhält. Und statt einer Kapiteleinteilung wählt sie Momente und Pole des Prozesses in alphabetischer Ordnung und nennt sie „Merk-male.“ Sie wären das, was für alle Prozesse konstitutiv ist.

Wäre es möglich, dies an einem Beispiel zu veranschaulichen? Es soll hier zumindest versucht sein. Und zwar am Beispiel einer Performance, die als Merkmal der „Befreiung“ erfahrbar wird. Eine kurze Performance, in der jeder Moment zählt, weil der körperliche Raum der Protagonistin aufs höchste verengt wird. Sie ist in einen eng gewobenen Kleider-Schlauch geschlüpft, an welchem sie zuvor zwei Monate gearbeitet hat – ohne zu wissen, wofür sie ihn einmal brauchen wird. Sie zwängt sich nun hinein, verschwindet auch mit dem Kopf darin, kann sich nicht mehr bewegen und auch kaum mehr Luft schöpfen. Diesen Akt des in die eigene Enge-Gehens bis zur Gefangenschaft müssen die anderen mitansehen. Sie reagieren darauf ohne Plan und Absprache, aber sie haben Scheren erhalten. Es ist also doch ein wenig absehbar, dass sie den Schlauch aufschneiden, das Gewebe zerstören und die Eingesperrte befreien werden. Nicht absehbar ist, wann sie es tun, wie sie es tun und was diese Gefangenschaft – der andere Pol aller Offenheit, von der das Lab sonst zehrt – eigentlich mit sich zieht. Braucht es radikale Einschränkung, braucht es Gefangenschaft, damit „Befreiung“ sein kann? In der Performance ist dies eine Frage der Zeit und des Moments. Gemeint ist damit auch, dass eine Situation blitzartige Handlungen erzeugt, die in Erkenntnis umschlagen. Befreiung ist möglich, aber nicht ohne Preis. Und sie bedeutet für die AgentInnen der Befreiung draussen und die Gefangene drinnen etwas ganz anderes und wird eventuell zu etwas Drittem, einem Gemeinsamen, zum „Befreienden“, das sich auch übertragen kann auf die Zuschauenden. Karin Mairitsch: „Insofern verstetigt sich das Befreiende als ein potenziell mögliches Handlungsmuster in einem selbst.“

Konstitutiver Teil der Arbeit und des Buches ist im Sinne der Erfahrbarmachung also ein Moment der Erkenntnis. Gewonnen wird diese im Tun und Zuschauen, formuliert wird sie im gemeinsamen Gespräch zur Performance, die im eigentlichen Sinn ein Übungsfeld ist. Die Dokumentation der Gespräche suggeriert nicht, dass alle Erkenntnisse gleichwertig sind. Sie unterstehen doch immer dem pädagogischen Muster eines Meister-Schüler-Gesprächs, in welchem der Erfahrungsvorsprung von Helmi Vent zählt und mit welchem sie eine Ordnung anbietet, die das Divergente und auch Widersprüchliche der Erfahrungen versammelt. Ohne es zu glätten. Während jemand einfach verwirrt ist ob der Zerstörung des Gewandes in der Performance, erfährt (und sagt) ein anderer Teilnehmer, dass man ja nicht alles zerstören müsse, um sich zu befreien (ein Teil des Gewandes hätte erhalten werden können). Eine andere erfährt den Schaden des zerschnittenen Gewandes als höchst bedauerlich, aber die Protagonistin wollte vor allem das Publikum in Bewegung setzen, um woanders hin zu kommen. Helmi Vent betrachtet die ins Gewand geschnittenen Löcher als das Ambivalente der Befreiung: „Für den einen sind es Wunden, und für den anderen ist es ein Durchschlupf für ‘was Neues.“

Damit kann auch die Frage beantwortet werden, ob kreative Prozesse mitteilbar sind, ob und für wen sie Sinn machen. Ja, sie sind es, wenn sie als Übungen im ästhetischen Denken festgehalten und nachvollziehbar werden. Da es immer auch um Lehrprozesse geht, können die Erkenntnisse synthetisiert werden, ohne dem Divergenten, Einzelnen und auch Unaufgelösten der Erfahrungen und Erkenntnisse ihre Gültigkeit zu nehmen.

Das Verfahren der Vielstimmigkeit wird im Buch in zwei Sprachen (Deutsch und Englisch) wie auch auf der visuellen Ebene umgesetzt durch die dynamisch geschnittene Typographie, das räumliche Layout und den Einsatz der bildnerischen Arbeiten, die der filmischen Dokumentation entnommen sind und die sich wie Figuren aus Einsichten durch Mischtechnik präsentieren – womit wiederum eine Figur ästhetischen Denkens gewonnen wurde.

Diese Sorgfalt und Reflexivität macht das Buch zu einem leisen, aber überaus gelungenen Manifest künstlerischen Denkens und ästhetischer Forschung – es macht Sinn und Spass, es in die Hände zu nehmen, anzuschauen, zu lesen und mitzudenken.

 

Biografie

Silvia Henke ist Kulturwissenschaftlerin und Publizistin und lebt in Basel. Seit 2000 ist sie Professorin für Kulturtheorie an der Hochschule Luzern Design & Kunst und leitet dort die Abteilung Theorie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Religion, Transkulturalität und ästhetische Bildung.